Ich sitze beim Bäcker. Rechts neben mir eine liebe, ältere Mitarbeiterin vom Weissen Ring und daneben eine rechtliche Betreuerin. Links von mir ein Mädchen, eigentlich schon eine Frau, nur ein paar Jahre jünger als ich. Sie wirkt unsicher. Ihre Augen sehen traurig aus. Sie redet langsam, leise und höflich. Die rechtliche Betreuerin ist wegen ihr da. Sie hilft ihr im Alltag klar zu kommen.
Eine junge Frau mit einer schlimmen Geschichte. Missbraucht vom Stiefvater. In ihrem eigenen zu Hause. Ein Ort der Sicherheit geben soll. In einem Alter, wo Mädchen lesen und rechnen lernen und draußen spielen sollten, unbeschwert und fröhlich. Sie ist gebrochen…vielleicht für immer.
Der Weisse Ring ist eine Beratungsstelle für Menschen, die Opfer von Gewalt und Kriminalität geworden sind. Die meisten Opfer sind Frauen. Sehr oft handelt es sich um häusliche Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigung. Ich hab mich dafür entschieden, ehrenamtlich mitzuarbeiten. Deshalb sitze ich da, bei diesem Bäcker an einem sonnigen Nachmittag. Ich höre mir die Geschichte der jungen Frau an. Sie erzählt, wie sie vor einigen Jahren den Mut hatte, ihren Stiefvater anzuzeigen und wie der Fall dann ganz schnell bei den Akten gelandet ist mangels Beweisen. Aussage gegen Aussage. Die junge Frau hat keine Chance, ihrem inneren Mädchen zu helfen. Aussage gegen Aussage. Keine Beweise, kein Fall, keine Verurteilung, keine Strafe. Die junge Frau sieht ihren Kinderschänder manchmal noch, wie er einfach zur Arbeit geht. Er hat vermutlich wieder eine Frau mit einem Kind. Sie möchte den anderen Kindern helfen, andere Kinder vor diesem Schwein bewahren, deshalb sucht sie nach Beweisen. Eine alte Kamera mit einem alten, nicht entwickelten Film könnte evt. helfen. Sie versucht es weiter. Will ihren Stiefvater ins Gefängnis bringen, um andere Kinder zu schützen. Eine starke Frau! Ein gebrochenes Mädchen…
Die Geschichte macht mich traurig und gleichzeitig unglaublich wütend! Wütend auf unser Rechtssystem. Wütend auf die Mutter, die nicht gesehen hat, was ihrem kleinen Mädchen passiert. Wütend , dass dieser Perverse draußen rumläuft als freier Mann. Wütend, dass die Lehrer, die Nachbarn, die Freunde nicht gesehen haben, wie dieses Mädchen leidet. Wie viele Menschen leiden in unserer Gesellschaft und keiner sieht es. Oder ignorieren wir Leid, wenn es uns selbst nicht betrifft? Sehen wir die Menschen in unserer Umgebung, Nachbarschaft, Familie noch oder sind wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt? Damit unser Essen zu fotografieren, Selfies zu machen, unser Haus zu putzen, unseren Job zu machen oder selbst nur den Tag zu überstehen? Sehen wir uns gegenseitig überhaupt noch? Kennst du deine Nachbarn? Fragst du deine Freunde, wie es ihnen wirklich geht? Weißt du, was dein Kind wirklich beschäftigt? Wie kann es sein, dass trotz SocialMedia und tausend Followern und angeblichen Freunden auf Facebook, viele Menschen so einsam sind? Viele Menschen leiden …ganz allein.
Wir sollten uns wieder mehr in die Augen schauen. Denn die Augen verraten, wie es einem Menschen geht. Die Augen sind der Spiegel der Seele. Du kannst nicht alles sehen. Du kannst nicht allen helfen. Aber das ist kein Grund seine Augen zu verschließen oder nur auf sein Smartphone gerichtet zu haben. Das wirkliche Leben passiert, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen. Wenn wir den Menschen in die Augen schauen. Wenn wir ab uns zu mal Fragen: „Wie geht es dir?“ Von Herzen, nicht aus Pflichtgefühl. Du kannst nicht jedem helfen, du kannst nicht jeden sehen. Ich kann das auch nicht! Aber schau dich um. Vielleicht siehst du jemanden, der deine Hilfe braucht, dein Schutz, dein Herz, deine Umarmung, dein Lächeln…